„Du bist ein Gott, der mich sieht“

Gedanken zur Jahreslosung

  • Matthias Ratz

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13)

Von Gott gesehen werden, immer über überall, sogar ins Verborgene hinein: für viele ist das eine gruselige Vorstellung. Nicht umsonst verstecken wir so manches in unserem Leben; die kleinen und großen Geheimnisse, vor allem die Dinge, die wir als intim verstehen. Wie viele masturbierende Teenager hatten schon furchtbar schlechte Gewissen, weil ihnen jemand eingeredet hatte, dass Gott das gar nicht gerne sähe, was sie da taten? Dabei ist an Selbstbefriedigung nichts verkehrt und Gott ist auch nicht der Moralwächter, der hinter die Gardinen lugt, um zu kontrollieren, ob alles mit rechten Dingen zugeht.

Ein Gott, der mich sieht, ist ein Trost-Satz. Er sieht dich so an, wie du bist: mit deinen Fehlern und Macken. Er will dir helfen, daran zu arbeiten: das zu ändern, was du ändern kannst; das zu akzeptieren, was einfach zu dir gehört. Er schaut dich mit vergebendem und liebendem Herzen an.
Gott sieht uns alle. Er sieht die, die sonst übersehen werden: die einsam auf dem Schulhof stehen; die das Klo auf der Autobahnraststätte putzen; die an Heiligabend in der Feuerwache für den Notfall bereit sind; die im Vorstandsbüro sitzen und wünschten, mehr ein Teil des Teams zu sein; die für ihre Rechte und Freiheit im Iran kämpfen.

Gott sieht die, die besonders gesehen werden müssen. Gott gibt denen ein Gesicht, die gesichtslos in der Masse unterzugehen drohen.

Ein Gott, der mich sieht, ist ein Gegenüber, ein Partner. Mit demjenigen, der mich ansieht, kann eine Beziehung entstehen und gelingen.
Wer mich ansieht, dem bin ich nicht gleichgültig. Der nimmt mich wahr, interessiert sich für mich, setzt sich für mich ein, tröstet mich.

So angesehen von Gott entwickle ich meine eigene Stärke weiter, entfalte meine Talente und gehe selbst mit offenen Augen durch die Welt. Dann sehe ich dich und du siehst mich. Und Gott sieht uns.