Ein staatliches Aufarbeitungsgesetz, eine externe Ombudsstelle und eine Dunkelfeld-Studie: Für eine bessere Aufarbeitung und Prävention von sexualisierter Gewalt braucht es nach Einschätzung von Christoph Pistorius, Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland, ein Bündel an Maßnahmen. Nach den Erkenntnissen über sexualisierte Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie aus der am Donnerstag veröffentlichten Missbrauchsstudie gehöre das Thema „auf allen Ebenen auf die Agenda“, sagt der Theologe. Die 20 Landeskirchen müssten einheitliche, verbindliche Standards umsetzen und Strukturen verändern, die Missbrauch begünstigen.
Der Forschungsverbund ForuM hat beklagt, dass ihm für die Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche bis auf eine Landeskirche keine Personalakten vorgelegen hätten und es Verzögerungen bei der Bereitstellung von Unterlagen gegeben habe. Warum war das so?
Christoph Pistorius: Im ersten Schritt wurde ein mehr als 100 Seiten dicker Fragebogen an alle Landeskirchen und die Diakonie geschickt. Darin standen auch Fragen, die nicht zu unserer Landeskirche passen, weil sie aus dem katholischen Kontext übernommen waren. Daher musste bei Lücken oder unklaren Rückmeldungen nachgearbeitet werden. Durch diese Verzögerungen mussten Prioritäten gesetzt und das Forschungsdesign angepasst werden.
Was die Personalakten betrifft, wurden auf EKD-Ebene die rechtlichen Bedingungen dafür geschaffen, dass die Forschenden Zugänge zu den Akten bekommen. Wir haben alle Personalakten auf landeskirchlicher Ebene gescannt. Es hat dann aber keinerlei Anfrage auf Akteneinsicht gegeben. Stattdessen wurden Fragebögen zu Beschuldigten und Betroffenen geschickt, die wir innerhalb des gewünschten Zeitfensters für die uns bekannten Fälle sorgsam ausgefüllt und nach Freigabe eines Strafrichters zurückgeschickt haben. Niemand ist im Anschluss mit Nachfragen, Änderungswünschen oder der Bitte um Nachlieferung an uns herangetreten. Insofern gibt es eine Differenz zwischen der Darstellung der Forschenden und dem, was wir tatsächlich beigetragen haben.
Sind Sie ansonsten zufrieden mit der Anlage der Studie?
Pistorius: Wir hätten uns gewünscht, dass nicht nur die Akten der landeskirchlichen Ebene in die Studie einfließen, weil es darin nur um Pfarrpersonen, Kirchenbeamte, Lehrkräfte und Angestellte auf landeskirchlicher Ebene geht. Die meisten Beschäftigten der rheinischen Kirche fielen so von vorneherein raus – ebenso wie der Bereich der Ehrenamtlichen, für die es naturgemäß keine Personalakten gibt. Hier wären zumindest Stichproben weiterführend gewesen. Aus den bekannten Fällen wissen wir, dass ein Drittel der Beschuldigten aus einem nicht-theologischen Beruf kommt und ein Drittel aus dem Bereich der Ehrenamtlichen.
Sollten die Personalakten nachgeliefert werden, um ein genaueres Bild zu erhalten?
Pistorius: Bei uns gibt es dieses Bedürfnis und ich finde es sinnvoll, sich darüber mit den anderen Landeskirchen zu verständigen. Aber man muss wissen, dass wir eine Kassationsordnung haben, die festlegt, wie lange Unterlagen aufgehoben werden müssen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn es aus dem Bereich beispielsweise einer Kindertagesstätte von 1947 keine Personalakten mehr gibt. Erst vor wenigen Jahren haben wir festgelegt, dass Personalakten nach Ende der Aufbewahrungsfrist nicht vernichtet werden dürfen, wenn es Hinweise auf sexualisierte Gewalt gibt. Als rheinische Kirche wollen wir schon jetzt Akten extern aufbereiten lassen, um die noch bevorstehende Arbeit der regionalen Aufarbeitungskommission zu unterstützen.
Als ein Forschungshindernis wurde die föderale Struktur der evangelischen Kirche genannt. Zurecht?
Pistorius: Es braucht in jedem Fall Einheitlichkeit und Verbindlichkeit. Das gilt für Standards in der Aktenführung genauso wie für Standards von Aufarbeitung und bei den Anerkennungsleistungen. So beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe des Beteiligungsforums mit dem Thema Anerkennungsverfahren und Anerkennungsleistungen. Die daraus entstehenden verbindlichen Standards sind eins zu eins zu übernehmen. Dafür muss man nicht gleich die Landeskirchen oder die Struktur mit Kirchenkreisen und Gemeinden auflösen. Ich bin überzeugt, dass wir auch in Zukunft mit einer presbyterial-synodalen Ordnung gut fahren. Verbindliche Standards müssen aber auf allen Ebenen auch verbindlich umgesetzt werden.
Ich kann mir auch vorstellen, dass es ein zentrales Monitoring des Umgangs mit Verdachtsmeldungen in den Landeskirchen gibt. Eine externe zentrale Ombudsstelle, an die sich Betroffene werden können, wäre ebenfalls sinnvoll. Ein „Weiter so“ wie bisher kann ich mir nicht vorstellen.
Ist ein kirchengesetzlich verankertes Recht auf Aufarbeitung sinnvoll?
Pistorius: Betroffene haben ein Recht auf Aufarbeitung und ich bin auch dafür, das in einem Kirchengesetz zu verankern. Allerdings habe ich meine Fragezeichen, ob Gesetze allein schon eine andere Haltung und Kultur prägen.
Braucht es eine gesetzliche Grundlage des Staates für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt?
Pistorius: Ich unterstütze das. Der Staat hat die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, und sollte bei diesem Thema eine stärkere Rolle spielen. Deshalb begrüße ich auch die Aufarbeitungskommissionen, die nach einheitlichen Standards unter den Augen der Bundesländer gebildet werden. Perspektivisch brauchen wir für unsere Gesellschaft zudem eine Dunkelfeld-Studie, die aus meiner Sicht auch Aufgabe des Staates ist.
Missbrauchstäter in der evangelischen Kirche nutzen Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse. Wie lässt sich das ändern?
Pistorius: Die rheinische Kirchenleitung hat schon länger die Themen Macht, strukturelle Gewalt und Schuld auf die Agenda der Gremien gesetzt. Auch in der Kirche gibt es Macht, über die wir reden müssen. Es ist nicht überraschend, dass der Pfarrberuf in der ForuM-Studie eine besondere Rolle spielt. Wir müssen uns fragen, wie wir ihn etwa im Blick auf die Trennung von Beruflichem und Privatem und die besondere Situation des Pfarrhauses verändern müssen. Als erste Landeskirche haben wir eine Arbeitszeitregelung für Pfarrerinnen und Pfarrer eingeführt und den Beruf damit auch etwas vom Sockel geholt. Damit verbindet sich für mich auch der Anspruch der Professionalität.
Welche anderen Strukturen begünstigen sexualisierte Gewalt?
Pistorius: Unser Problem besteht auch darin, dass wir in unseren Leitungsorganen zu stark auf Einmütigkeit fokussiert sind. Das führt möglicherweise dazu, dass wir nicht konfliktfreudig und konfliktfähig genug sind, um mit Vorkommnissen wie sexualisierter Gewalt angemessen umzugehen. Viel Nähe und das Bemühen um ein gutes Miteinander sind dann eventuell stärker als der Wille, Taten aufzudecken und schonungslos aufzuarbeiten. Wir sollten auch darüber nachdenken, ob es wirklich klug ist, dass jemand vom ersten Tag seines Dienstes bis in den Ruhestand in derselben Gemeinde arbeitet.
Wie kann es zum erhofften Kulturwandel kommen?
Pistorius: Über das Schulungsprogramm in unserer Kirche haben wir schon viele Menschen anders sensibilisiert als in der Vergangenheit. „Hinschauen, helfen, handeln“ – das ist vielen Menschen stärker bewusst geworden. Auch das Erschrecken über die Studienergebnisse führt dazu, dass niemand in unserer Kirche sagen kann, um dieses Thema müsse man sich nicht kümmern. Es gehört auf allen Ebenen auf die Agenda.
Wie geht es jetzt in der rheinischen Kirche konkret weiter?
Pistorius: Wir haben unsere Strukturen für Aufarbeitung, Prävention und Intervention überarbeitet und wissen, dass wir auch mehr Geld für Studien und Aufarbeitung in die Hand nehmen müssen. Darüber hinaus verständigen wir uns im Raum der drei Landeskirchen sowie der Diakonie in Rheinland, Westfalen und Lippe, wie wir in diesem Verbundraum gemeinsam vorgehen. Bis Mitte des Jahres soll in der regionalen Aufarbeitungskommission die erste Veranstaltung für die Betroffenen stattfinden. Die Kommission befasst sich dann mit allen bekannten und mit neu gemeldeten Fällen.