Nes Ammim: „Dorf der Versöhnung“ in Israel wird 60 Jahre alt

Das Dorf Nes Ammim in Israel hat sich der Versöhnung verschrieben: zwischen Juden und Christen, Israelis und Deutschen, Juden und Arabern. Vor 60 Jahren wurde es gegründet. Die Evangelische Kirche im Rheinland gehört in Deutschland schon lange zu den wichtigsten Unterstützern des Dorfes. Wie es sich heute im Dorf lebt, berichten engagierte Helferinnen und Helfer.

Es weht ein leichter Wind vom Mittelmeer her in der christlichen Siedlung Nes Ammim im Norden Israels. Anja Mendouga streicht sich mit einer kurzen Handbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Hier ist viel mehr Sonnenschein als in Deutschland, das macht echt gute Laune“, sagt sie und lacht. Hinter ihr wiegen sich die Palmen. Die 35-Jährige ist seit vergangenem Sommer im Management-Team von Nes Ammim im Einsatz. Das Dorf ist seit Jahrzehnten eine beliebte Anlaufstelle für Freiwillige aus Europa und den USA, die eine Zeitlang im „Heiligen Land“ leben, lernen und arbeiten wollen. In diesem Jahr feiert es sein 60-jähriges Bestehen, es wurde im Frühjahr 1963 gegründet.

Nes Ammim: Niederländischer Arzt hatte die Idee zum christlichen Dorf

Ein christliches Dorf in Israel: Diese Idee hatte in den 1950er Jahren der niederländische Arzt Johan Pilon. Der engagierte Protestant war entsetzt über den deutschen Massenmord an sechs Millionen Juden, den Holocaust. Der europäische Antisemitismus, so diagnostizierte er, habe eine seiner Wurzeln im Christentum. Pilon wollte zeigen, dass es auch anders geht: Christen sollten in Israel das Judentum kennenlernen und so für die vielfältigen Formen des Antisemitismus sensibel werden.

Nes Ammim heißt übersetzt „Zeichen für die Völker“

Der Mediziner fand Unterstützer in den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz. Mithilfe von Spenden wurde nördlich von Haifa für eine Million Schweizer Franken rund ein Quadratkilometer Land erworben – die Keimzelle von Nes Ammim, zu Deutsch „Zeichen für die Völker“. 1963 kamen die ersten Siedler, ein Ehepaar aus der Schweiz. Sie wohnten in einem ausrangierten Linienbus, der noch heute mitten Dorf steht. Als Museum erzählt er von den sechs Jahrzehnten, in denen das Dorf zum ökumenischen Begegnungszentrum wuchs: mit einem Touristenhotel und zahlreichen Häusern für Freiwillige.

Helfer kommen immer wieder nach Israel

Und mit einem Garten, der mit blühenden Bougainvilleen und Oleandersträuchern seinesgleichen sucht. Dafür sorgt heute unter anderen Frank Böhm. Der 76-Jährige hat schon vor 35 Jahren mit seiner Familie in Nes Ammim gelebt. Jetzt ist er als „Senior Volunteer“ zurückgekehrt. In brauner Arbeitshose und roten Hosenträgern schneidet er Hecken oder hält Wege in Schuss. Der pensionierte Religionspädagoge aus Heidelberg will dabei mithelfen, dass es im Dorf nach der Coronakrise wieder aufwärts geht. „Ich habe das Gefühl, dass ich hier gebraucht werde. Das Dorf ist mir ein Stück Heimat geworden.“

„Wir dürfen nicht aufhören, gegen alle Formen von Antisemitismus und Extremismus zu arbeiten“

Anja Mendouga fühlt sich ebenfalls eng mit Israel verbunden. „Der Charme von Israel ist die Mischung aus einem westlichen Land und den vielen historischen und religiösen Bezügen“, sagt die IT-Spezialistin. Besonders berührend: der Kontakt mit Überlebenden des Holocaust und ihren Nachfahren. „Der Großteil der Menschen, die man hier trifft, sind persönlich betroffen. Das ist für mich jedes Mal aufs Neue ein Appell: Wir dürfen nicht aufhören, gegen alle Formen von Antisemitismus und Extremismus zu arbeiten.“

Studienprogramm unterstützt Freiwillige in Nes Ammim

Auch ihr Blick auf das Christentum hat sich verändert. „Jesus war Jude“, sagt sie im Videotelefonat. „Und wir können ihn nur dann wirklich verstehen, wenn wir bereit sind, vom Judentum zu lernen, anstatt uns darüber zu stellen, wie es leider viel zu oft in der Geschichte passiert ist.“ Sie spricht von einem „Augenöffner“, weil sie in Israel so viele Aha-Effekte erlebt habe. Das ging auch Peter Noack so. Er war von seinem Freiwilligendienst und Israel so fasziniert, dass er heute Vorsitzender des deutschen Nes-Ammim-Vereins mit Sitz in Düsseldorf ist. „Nes Ammim ist ein guter Ort, um das Land zu erkunden und mit seinen vielen Facetten kennenzulernen“, sagt der 31-jährige Islamwissenschaftler, der nach dem Abitur ein Jahr lang als Freiwilliger im Dorf war. Ein Studienprogramm helfe den Freiwilligen, das Land zu verstehen. „Und wir stellen sogar Autos zur Verfügung.“

Das Dorf hatte schon früh mit Widerständen zu kämpfen

Eines jedoch bereitet ihm derzeit Kopfzerbrechen: Seit der Coronakrise zögerten die israelischen Behörden bei der Vergabe von Freiwilligen-Visa für Nes Ammim. So gibt es momentan nur wenige Freiwillige im Dorf, die im Hotel und im Garten arbeiten. „Es fühlt sich so an, als wäre immer noch Lockdown“, sagt Noack. Über die Gründe kann er nur rätseln – doch er ist zuversichtlich, dass das Problem gelöst werden kann. Es ist nicht das erste Mal, dass Nes Ammim mit Widerständen zu kämpfen hat. Schon vor 60 Jahren gab es Gegenwind: Ein Rabbiner fürchtete damals, dass die Siedlung eine Missionsstation werden sollte, um Juden zum Christentum zu bekehren. Später wurde er ein enger Partner im jüdisch-christlichen Gespräch. Einige Jahre danach gab es Proteste von Holocaust-Überlebenden: Sie waren dagegen, dass Deutsche aus dem „Land der Täter“ nach Nes Ammim ziehen. Doch auch hier entstand Vertrauen.

Nes Ammim hat sich auch wirschaftlich gefangen

Um die Jahrtausendwende machten wirtschaftliche Sorgen dem Dorf zu schaffen. Eine Rosenzucht und eine Tischlerei, jahrzehntelang Markenzeichen von Nes Ammim, mussten eingestellt werden. Mehrmals stand das Dorf am Rand der Pleite. Daher war klar, dass sich die Siedlung neu orientieren muss. Die Idee eines Dorfs des Dialogs entstand: Die Eigentümer verkauften Grundstücke an jüdische und arabische Familien, die jetzt fest zum Dorf gehören. Heute steht Nes Ammim mit seinen 400 Einwohnern wirtschaftlich besser da als je zuvor.

Drei Fragen zu Nes Ammim

Hartmut Rahn, nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland, über das Engagement der rheinischen Kirche in Nes Ammim. Rahn ist auch Mitglied im „Board of Directors“ von Nes Ammim.

Herr Rahn, warum fördert die rheinische Kirche seit so vielen Jahren das Dorf Nes Ammim in Israel?
Hartmut Rahn: Seit den Anfängen vor genau 60 Jahren unterstützt die Evangelische Kirche im Rheinland Nes Ammim. Das Dorf fördert nicht nur die christlich-jüdische Zusammenarbeit, sondern setzt sich zunehmend auch für die Verständigung zwischen den Bevölkerungsgruppen in Israel ein. Das ist für uns als christliche Kirche Teil unserer DNA.

Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an Nes Ammim?
Rahn: Die Gründer von Nes Ammim wollten nach den Schrecken der Shoah ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen Christen und Juden aufschlagen. Wir als Christen wollen von Juden als dem Ursprung unseres Glaubens lernen, und wir lehnen Judenmission ohne Einschränkung ab. Nes Ammim ist einer der wenigen Orte in Israel, der weder jüdisch noch arabisch ist und der aufgrund seiner Geschichte prädestiniert ist, als „neutraler“ Ort ein starkes Zeichen für Frieden und Dialog der Gewalt entgegenzusetzen.

Wird die rheinische Kirche das Dorf weiterhin unterstützen?
Rahn: Die Evangelische Kirche im Rheinland unterstützt Nes Ammim nicht nur finanziell. So ist ein Mitglied der Kirchenleitung im „Board of Directors“ von Nes Ammim. Die Kirchenleitung plant im November anlässlich des 60. Jubiläums eine Reise nach Nes Ammim. Die finanzielle Unterstützung wird weitergeführt und steht derzeit nicht zur Debatte.

 

  • 3.7.2023
  • epd/Michael Grau
  • Red